2. Was ist Computational Thinking?#
Lernziel
Sie können den Begriff Computational Thinking beschreiben, einordnen und gegenüber der Informatik sowie dem Programmieren abgrenzen.
Nach wenigen Jahrzehnten der Digitalisierung wird in der Wissenschaft zunehmend erkannt, dass das Denken im Kontext arithmetischer und kombinatorischer Operationen – also Computation – neue Wege der Forschung und Entwicklung eröffnet. Heute existieren nahezu in jedem Fachgebiet eigene Zweige des computergestützten Forschens, darunter:
Computerphysik
Computerbiologie
Computersoziologie
Computerpsychologie
Computerkunst
Computergestütztes Design
…
Gleichzeitig gibt es weltweit wachsende Bestrebungen, Computational Thinking (CT) in den schulischen Bildungskanon aufzunehmen – vergleichbar mit Lesen, Schreiben und Rechnen. Die Fähigkeit zum algorithmischen Denken gilt heute als zentrale Voraussetzung für ein souveränes Leben in einer zunehmend digitalen, automatisierten und vernetzten Welt.
Es gibt zahlreiche Definitionen von Computational Thinking – je nach Quelle mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Trotz dieser Vielfalt teilen sie einen gemeinsamen Kern. Der Begriff selbst reicht bis in die 1950er Jahre zurück, bekannt wurde er jedoch vor allem durch die Informatikerin Jeannette Wing, die CT im Kontext der Schulbildung popularisierte. In ihrem wegweisenden Artikel Computational Thinking [Wing, 2006] beschreibt sie CT als eine Denkweise, die:
Problemlösen und Systementwurf regelrecht umarmt.
Spätere Definitionen konkretisieren diesen Gedanken. So argumentieren Shute et al. [2017], dass CT notwendig ist, um Probleme algorithmisch – mit oder ohne Computer – zu lösen. Sie beschreiben CT als Denk- und Handlungsform, die sich durch bestimmte kognitive Fähigkeiten manifestiert und auf den Prinzipien der Informatik basiert. Computational Thinking sei eine Tätigkeit, bei der Werkzeuge und Techniken der Informatik angewendet werden, um über natürliche wie künstliche Systeme und Prozesse nachzudenken.
Shute et al. [2017] argumentieren, dass CT benötigt wird um Probleme algoritmisch (mit und ohne Hilfe des Computers) zu lösen. CT sei eine Art des Denkens und Handelns, welches sich durch bestimmte Fähigkeiten manifestiert. Es basiere auf den zentralen Prinzipien der Informatik. Es kann als Tätigkeit aufgefasst werden bei der Werkzeuge und Techniken der Informatik angewendet werden, um sowohl über natürliche wie auch künstliche Systeme und Prozesse nachzudenken.
Eine weitere präzise Beschreibung liefert Julian Fraillon et al. in der ICILS-Studie [Fraillon et al., 2019]:
Computational Thinking ist eine individuelle Fähigkeit einer Person um Aspekte realweltlicher Probleme zu identifizieren, die für eine informatische Modellierung geeignet sind, algorithmische Lösungen für diese (Teil-)Probleme zu bewerten und selbst so zu entwickeln, dass diese Lösungen mit einem (digitalen) Computer operationalisiert werden können. – [Fraillon et al., 2019]
CT geht also über das reine Programmieren hinaus. Es bezieht sich auf Denkweisen, die aus der Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten – aber auch den Grenzen – von Computern entstehen. Ob die rechnende Einheit dabei ein Mensch oder eine Maschine ist, spielt zunächst keine Rolle.
Rechnersysteme und Berechnungsmodelle bestärken uns heute neue Probleme anzugehen, die früher als unlösbar galten. Die Frage ‚Was können wir lösen?‘ konkretisierte sich zu ‚Was ist berechenbar?‘. Eine Frage die wir bis heute nur teilweise beantworten können. Zudem fragen wir heute ‚Was der Mensch eigentlich noch kann, was die Maschine nicht kann?‘ und ‚Worin uns die Maschine überlegen ist?‘. Was ist also der fundamentale Unterschied zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz bzw. kennzeichnet der Begriff Intelligenz überhaupt den Unterschied über den wir sprechen sollten.
Computational Thinking in seiner grundlegenden Form ist eine Aktivität, ein Denkprozess, der durch praktische Anwendung feingeschliffen wird. Es ist die Summe der mentalen Fähigkeiten mit denen wir
Algorithmen bzw. Berechnungsschritte entwerfen, welche uns die Arbeit abnehmen, und
die Welt als ein Zusammenspiel von Prozessen der Informationsverarbeitung erklären und interpretieren können.
In ihrem Artikel Computational Thinking: The Developing Definition Selby and Woollard [2013] fassen Cynthia Selby und John Woollard Computational Thinking als Denkprozess auf – also als eine Art zu überlegen, wie Berechnungen ablaufen. Sie identifizieren vier zentrale Techniken:
Abstraktion nutzen: Gemeinsame Eigenschaften und Strukturen einer Gruppe von Objekten erkennen und beschreiben
Dekomposition: Komplexe Probleme in kleinere, überschaubare Teilprobleme zerlegen
Muster erkennen: Regelmäßigkeiten und Strukturen in Informationen entdecken und nutzen
Algorithmen entwerfen: Systematische Lösungswege entwickeln und in eindeutiger Form darstellen
Diese vier Techniken bilden das methodische Rückgrat von Computational Thinking. Sie sind eng miteinander verwoben und bedingen sich oft gegenseitig.
Computational Thinking für Fortgeschrittene erfordert Erfahrung – und Fachwissen im jeweiligen Anwendungsgebiet. Um beispielsweise wohlklingende Musik algorithmisch zu komponieren oder die Aerodynamik eines Flugzeugs simulativ zu untersuchen, reicht es nicht, Muster zu erkennen, Probleme zu zerlegen oder Algorithmen zu entwerfen. Es braucht zusätzlich ein tiefes Verständnis für Musiktheorie bzw. für physikalische Strömungsmechanik.
Um umfassende Informationsverarbeitungssysteme und ihre Interaktion mit dem Menschen zu verstehen, müssen wir Systeme, Programme, Algorithmen und menschliches Verhalten nicht isoliert, sondern im Zusammenhang betrachten. Schon heute interagieren wir täglich mit Künstlicher Intelligenz (KI) – auch wenn sie nicht in humanoiden Robotern wie in der Dystopie Die Matrix erscheint. Die KI, mit der wir zu tun haben, ist engmaschig in unser Leben eingebettet – oft unsichtbar, aber wirkmächtig.
Dabei ist ihre „Intelligenz“ kein eigenständiges Bewusstsein, sondern das Produkt menschlicher Datenarbeit, Erwartungen und Modelle.
Sie wurde von uns in die Systeme hinein gebracht – sie wirkt intelligent, weil sie auf unseren kollektiven Entscheidungen basiert.
Wird es künftig möglich sein, künstliche Intelligenz nicht mehr von einem intelligenten Lebewesen zu unterscheiden? (→ schwache KI)
Wird eine solche KI vielleicht sogar als bewusstes Lebewesen betrachtet werden? (→ starke KI)
Um diese tiefgreifenden Verflechtungen zwischen Mensch und Maschine zu analysieren, braucht es mehr als technische Kenntnisse. Wir müssen lernen, wie Informatikerinnen, Soziologinnen und Psycholog*innen zu denken.
Die Auswirkungen der Digitalisierung sind allgegenwärtig: Von der Transformation klassischer Medien zu Streamingdiensten, über die ständige Erreichbarkeit von Informationen und Menschen, bis hin zur Verhaltensvorhersage durch wenige Mausklicks.
Was bedeutet die Interaktion mit dieser informationsverarbeitenden Welt für uns als Menschen? Dienen diese Systeme uns – oder beginnen wir, ihnen zu dienen? Welche Chancen, aber auch welche Risiken und Gefahren sind damit verbunden?
Um solche Fragen zu stellen – und zu beantworten – braucht es einen kühlen Kopf. Es braucht: Computational Thinking.
Nach Jeannette Wing bedeutet Computational Thinking konzipieren, nicht bloß programmieren. Es ist eine fundamentale Fähigkeit, um in einer technologisierten Welt bestehen zu können – kein rein technisches Können, sondern eine Denkweise.
Sie ist dem Menschen eigen, nicht der Maschine.
Computational Thinking heißt nicht, wie ein Computer zu denken – sondern wie eine Informatikerin oder ein Informatiker. — [Wing, 2006]
Computer selbst sind erstaunlich primitive Maschinen. Doch durch sie können wir auf kreative Weise komplexe Probleme lösen.
Die Informatik schöpft ihre formalen Grundlagen aus der Mathematik – sie ist eine Formalisierungs- und Strukturwissenschaft, keine Naturwissenschaft. Gleichzeitig ist sie eine Ingenieurwissenschaft, weil Informatiker*innen Systeme gestalten, die in der realen Welt operieren.
Computational Thinking verbindet daher drei Denkweisen:
formales Denken
mathematisches Denken
kreatives, schaffendes Denken
Computational Thinking schafft keine Verbrauchsgüter. Es produziert Ideen, Konzepte und Problemlösungsmuster, die wir in unseren Ideenkatalog aufnehmen können. Nicht das einzelne Programm oder die fertige Software steht im Mittelpunkt – sondern der Denkprozess, der dahin führt.
CT ist erlernbar. Es findet überall statt – und ist vielleicht tatsächlich so grundlegend wie Lesen und Schreiben. Das Klischee der Informatiker*innen als reine Programmierer*innen war nie zutreffend. Die Fähigkeit zu algorithmischem Denken steckt in uns allen.
Abschließend möchten wir die Definition verwenden, die im Rahmen der ICILS-2018-Studie (International Computer and Information Literacy Study) von der Universität Paderborn formuliert wurde:
Computational Thinking
Computational Thinking (CT) bezieht sich auf die individuelle [und universal anwendbare] Fähigkeit einer Person, eine Problemstellung zu identifizieren und abstrakt zu modellieren, sie dabei in Teilprobleme oder-schritte zu zerlegen, Lösungsstrategien zu entwerfen und auszuarbeiten und diese formalisiert so darzustellen, dass sie von einem Menschen (oder auch einem Computer) verstanden und ausgeführt werden können. – Universität Paderborn, ICILS 2018
Es ist eine universelle Aktivität bei der wir (1) Probleme identifizieren, (2) diese modellieren und in kleine Probleme zerlegen, (3) Lösungen entwerfen um schließlich (4) unsere Lösung in einer unmissverständlichen (formalen) Form zu beschreiben.