8.3. Mehr als reine Syntax#
Eines ist klar: Informationen sind für die Informatik der wesentlich Forschungsgegenstand aufdem sich die Disziplin aufbaut. Der Begriff Informatik betont die Disziplin als Wissenschaft der Informationsverarbeitung. Informationsverarbeitung deshalb, da die Entstehung von Information oft ausgeklammert wird.
8.3.1. Unsichtbare Sinnstiftung#
Computer bewegen, speichern und manipulieren Informationen, und wir als Computational Thinker*innen entwerfen Algorithmen, die diese Informationsverarbeitung beschreiben. Dieser Verarbeitungsprozess ähnelte lange einer Einbahnstraße. Informationen gelangen über eine Eingabe in ein Verarbeitungssystem, werden manipuliert, ausgegeben und schlussendlich von einem Menschen interpretiert. So haben wir es im Abschnitt Informationsverarbeitung besprochen. Aus nachrichtentechnischer Sicht, interessieren wir uns nicht für die Interpretation, Entstehung und Wirkung von Informationen. Softwareentwickler*innen haben das Ziel Nachrichten sicher und korrekt zu übertragen. Die Interpretation, Entstehung und Wirkung von Informationen war niemals Aufgabe der Maschine sondern der Menschen.
Diese vier Säulen der Informationsverarbeitung (Einlesen, Speichern, Verarbeiten, Ausgeben) sind heute noch immer ein gültiges Modell. Doch müssen wir Ihnen gestehen, dass heute kaum noch eine Eingabe das Informationssystem gänzlich „verlässt“. Und das Ihre Eingabe, Auswirkungen auf die Manipulation weiterer Eingaben haben wird. Anders ausgedrückt, Ihre Eingabe wird von Maschinen und Algorithmen heute so interpretiert, dass diese selbstverständlich eine Wirkung auf Sie haben.
Zum Beispiel, interpretieren Algorithmen Ihre Musikauswahl auf Streamingdiensten, um Ihnen möglichst „gute“ Musikvorschläge machen zu können. Natürlich wurden diese Algorithmen von Menschen entwickelt, doch sitzt dort keiner mehr an einem Monitor und entscheidet über Ihren individuellen Musikgeschmack. Algorithmen interpretieren und bewerten Ihre Eingabe (Interpretation). Sie kategorisieren sie (Entstehung/Deutung). Und schlagen Ihnen neue Musikstücke vor (Wirkung). Können wir diese Deutung verallgemeinern, also allgemeine Gesetzmäßigkeiten feststellen, könnten wir möglicherweise von einer Wissensgenerierung sprechen.
Was wir heute zunehmend vorfinden sind mehr oder weniger intelligente Systeme, d.h. künstliche Intelligenzen. Unbestritten ist die künstliche Intelligenz (KI) ein Teilgebiet der Informatik, vielleicht sogar das Gebiet mit dem größten Zuwachs. In diesem Gebiet berühren sich viele unterschiedliche Forschungsgebiete, wie etwa der Psychologie, Neurowissenschaften, Mathematik, Logik, Kommunikationswissenschaften, Philosophie und Linguistik. Als Computational Thinker*innen werden wir zunehmend mit der automatisierten Entstehung, Interpretation, Deutung und Wirkung von Informationen konfrontiert. Können wir uns also noch länger hinter der reinen syntaktischen Definition der Information verstecken?
8.3.2. Emergenz des Sinns#
Ein weiterer Kritikpunkt ist die reine Betrachtung der Information als die Summe ihrer Einzelteile. Diese Betrachtung ist nur möglich, da wir uns rein auf die Syntax stützen und den Sinn ausklammern. Wie sinnvoll, wertvoll, wertlos, wahr oder falsch eine Information ist und ob sie in uns etwas auslöst, spielt keine Rolle. Sobald wir aber die (semiotische) Semantik einer Information betrachten, zerfällt dieser Reduktionismus (der uns natürlich bei der Informationsverarbeitung äußert dienlich ist).
Zeichnen wir zum Beispiel ein Pixelbild, was einen Buchstaben darstellt, dann ergibt sich der Sinn nicht aus der Summe der einzelnen Pixel, sondern aus der (emergenten) Darstellung des Buchstabens. Der Sinn eines literarisches Werks lässt sich nicht durch eine rein syntaktische Betrachtung beziffern. Oder blicken wir nochmals zurück zur Situation in der Bahn. Nach Shannons Modell wäre die Information eigentlich gar nicht die aktuelle Wetterlage, sondern die einzelnen Pixel auf dem Monitor. Diese einzelnen Pixel haben keinen Bezug zum Wetter. Auch die Kolmogorow-Komplexität hilft uns nicht weiter. Würde der Monitor die Wetterlage in einer anderen Schriftart oder in einer etwas anderen Farbe anzeigen, wäre dies eine vollkommen andere Information.
Wir kennen das Phänomen der Selbstorganisation aus der Studie von komplexen Systemen. Ein Fisch- oder Vogelschwarm ist ein solches komplexes System. Jeder einzelne Vogel folgt sehr einfachen (mikroskopischen) Regeln. Zum Beispiel: Folge deinen 4 nächsten Nachbarn. Dadurch entsteht jedoch ein äußerst komplexes (makroskopisches) neues Schwarmverhalten. Dieses emergente Verhalten geht nicht aus einer hierarchisches Organisation hervor, sondern entsteht „von selbst“ durch die Interaktion der einzelnen Vögel.
Wir können den Bogen spekulativ noch weiter spannen. Im obigen Beispiel hatten die Pixel eine bestimmte hierarchische Anordnung. Wir können uns die Frage stellen: Kann aus sich selbst-organisierenden Einzelinformationen, ein vollkommen neuer Sinn—quasi „aus sich selbst heraus“—hervorgehen? Programme und Algorithmen sind an und für sich Information die Information verarbeiten. Ist dann nicht eine solche selbst-organisierende Menge von Einzelinformationen (Algorithmen), die aus sich selbst heraus Informationen schöpfen, eine künstliche Intelligenz (KI)? Suchen wir nicht genau nach solch einer Selbstorganisation? Was hier wohl fehlt ist die sinngebende Instanz. Die eigenart der Sinngebung scheint uns Menschen vorbehalten zu sein auch wenn diese Sinngebung nicht mehr zwingend in unserem Kopf sondern in einer Maschine lokalisiert ist.
8.3.3. Zusammenfassung#
Naturwissenschaftliche und strukturwissenschaftliche Informationsbegriffe sind klar definiert und anwendbar. Sie bieten jeweils ein Maß um den Informationsgehalt zu messen. Diese Klarheit hat allerdings ihren Preis. Sie klammert die menschliche bzw. intelligente Komponente in der Informationsinterpretation, Entstehung und Wirkung aus—sie ist blind für den Sinn. Wollen wir diese Komponenten besser begreifen, müssen wir uns einer ganz anderen Disziplin zuwenden: den Geisteswissenschaften.